08.04.2021
10. November 2019, vier Uhr morgens. Ein Wecker läutet. Mein Wecker! Nein, ich möchte nicht mehr schlafen. Bin viel zu aufgeregt dazu. Steige aus meinem Bett heraus und öffne die Schiebetür von
meinem Bus. Ein lauwarmes Lüftchen mit blumigen Düftchen strömt mir entgegen. Ich sauge sie tief ein. Der Nachthimmel ist vom eine paar weißen Wolken durchzogen. Es hat nur ganz leicht
geregnet.
Mario dreht sich noch ein Mal im Bett um. Ich öffne den Kofferraum, eine Decke fällt mir entgegen. Hole meine Kaffeekiste heraus und stelle Wasser auf dem Gaskocher zu. Langsam wachen mein Körper
und mein Geist auf, als der Dampf des frisch aufgegossenen Kaffees in meine Nase aufsteigt.
Nun richtet Mario die Videokamera auf mich. Echt jetzt? Schau, wie ich aussehe! Meine Haare! Meine verschlafenen Augen! Ich muss lachen, aber leise. Am Campingplatz von Athen schläft noch alles
und auch sonst ist es recht ruhig.
5.00 Eine Stunde später. Zwei Scheinwerfer fahren auf den Parkplatz vorm Campingplatz ein. Das Taxi ist pünktlich gekommen! Hurra! Mario und ich haben alles mit und das ist nicht sehr viel. Was
bin ich aufgeregt! Und Mario auch. Kurze Zeit später steigen wir am Syntagmaplatz aus. Die Straßenlaternen erleuchten den Platz. Rund herum stehen Busse bereit. Nochmals alles checken. Aber
alles, was ich brauche, trage ich am Körper. Langsam finden sich immer mehr Menschen ein. Noch eine Umarmung und ich steige alleine in einen der Busse. Ich kann es selber nicht glauben, dass ich
das tue! Soll ich doch nicht besser wieder aussteigen? Mir alles ersparen? Ich lächle und winke noch einmal aus dem Fenster, als der Bus losfährt. Das Licht geht aus und eine kleine Träne rutscht
auf meiner Wange hinab. Atme ganz tief durch.
Eine aufgenommene Information wird über das Radio abgespielt.
»Welcome to the Athens Marathon Run 2019!« Es folgen geschichtlicher Hintergrund und der Ablauf beim Stadium. Zum Stadium in Marathon. 42,195 Kilometer entfernt von Athen.
Vor einem Jahr war ich hier, nach einem Konzert, als Zuschauerin. Irgendwie kam ich auf die Idee, da könnte ich auch mitmachen! Als »Nichtläuferin«! Aber vielleicht reichen 12 Monate zum
Trainieren aus. Ganz bestimmt!
Es war alles andere als einfach. Von 4 Kilometern, die ich bisher lief, wollte ich mich auf die 42 steigern, das ist das 10-fache! Meine Grundvoraussetzungen waren auch nicht berauschend. 10
Jahre nach meiner Chemotherapie wegen Brustkrebs. Eine massive Schilddrüsenunterfunktion. Ein alter Bänderriss im Sprunggelenk, Arthrose im Lendenwirbel, Glutenunverträglichkeit. Aber: Es gibt
Menschen, die sind noch viel, viel schlimmer dran und laufen auch. Also werde ich sicher meinen Weg finden.
ES WAR FURCHTBAR! ES WAR ANSTRENGEND!
ES WAR VIEL KOPFARBEIT!
ES WAR EIN TRAUM!
Von kalten Winterläufen, zu extrem heißen Sommerläufen, bergauf, bergab, falsche Schuhe und oft die körperlichen Grenzen! Jedes Mal zu Hause »Hurra! Ich habs wieder geschafft!« Viel unterwegs
wegen meiner Konzerte. Österreich- Slowenien- Kroatien- Serbien- Nordmazedonien- Griechenland und wieder zurück. Nach Italien und Spanien. Alles koordinieren.
Musik und Marathontraining, nichts darf vernachlässigt werden. Alles selber gefahren mit meinem Bus.
Trillerpfeifen duellieren sich mit Vogelgezwitscher. Die Morgenröte verscheucht die Nacht. Busse spucken unzählige LäuferInnen aus. Ich bin eine von ihnen. Allein unter vielen. 20.000 Teilnehmer. Rekord!
Kurz vor der Startaufstellung auf die Toilette. »Hallo! Ich will heute auch dabei sein«, sprach die Monatsblutung. Meine. Nicht hocherfreut darüber, reihe ich mich in meinem Startblock ein.
Ein lauter Donnerknall, der Wind bringt die Wolken, die Wolken platzen und lassen wirklich alles raus! Die Sonne lässt sich das nicht bieten und schickt ihre ganze Kraft herab. Der Asphalt
dampft. Füße rennen darüber, auch meine folgen nun der blauen Linie, die bis nach Athen führt. Die ersten vier Kilometer habe ich geschafft, nur mehr 10-mal so viel! »No problem«, sprach das
Glücksgefühl.
Ich kenne die Strecke. Aus der Perspektive einer Autofahrerin. Nach acht Kilometern fängt es gemächlich an. Die Bergaufstrecke liegt vor mir. Zum Glück keine Alpine! Also, diese Leute verstehe
ich noch immer nicht, die wie Gämsen Schotterwege bis zum Gipfel hochlaufen!
Die Zuschauer am Straßenrand feuern uns an. In jedem Ort wird laut Musik gespielt und alle fünf Kilometer sind Versorgungsstationen eingerichtet. Unzählige Plastikflaschen liegen kreuz und quer
um sie herum. Läufer nehmen sich eine Wasserflasche und schmeißen sie nach nur zwei Schlucken zu Boden, obwohl Container dafür bereitstehen. Heute ist nicht Freitag. No friday for future. Zum
Glück habe ich einen Trinkrucksack mit und muss nichts zu diesem Müllberg beitragen.
Das Läuferfeld lockert sich etwas außerhalb der letzten Ortschaft. Links und rechts von mir verbrannte Erde. Verkohlte Bäume. Hier in Mati gab es im Juli 2018 das verheerendste Brandunglück in
Europa. Viele Menschen starben.
Es ist beklemmend, hier entlang zu laufen.
Nun sehe ich immer wieder an kleinen Straßenkreuzungen Menschen in schwarz gekleidet. Sie halten Papierkartons mit Aufschriften in der Hand. Damit niemand vergisst. Damit so was nicht nochmals
geschieht.
Es war furchtbar, Menschen stürzten sich auf der Flucht vor den Flammen an den Steilklippen ins Meer.
Es tut einfach nur weh!
Laufe an einer in schwarz gekleidete Frau vorbei, sie ist etwa in meinem Alter. Sie sieht mir in die Augen und ich spüre ihren Schmerz. Wen mag sie wohl verloren haben? Meine ganze Energie
verschwindet. Der Schmerz rollt auf mich zu wie ein tosender Güterzug. Ich bleibe stehen, blicke zu ihr und laufe zurück.
Wir umarmen uns. Für einen Moment hält die Zeit still.
Dann drückt sie meine Hand und sagt, ich soll weiterlaufen. Für ihren Sohn.
Keine Ahnung, wie ich das geschafft habe! Das letzte Bergaufstück sind wir alle, wirklich alle, ohne Ausnahme, gegangen. Keiner lief mehr. Jeden schmerzten die Beine. Doch ich wusste, das ist das
letzte Stück, bevor es bergab nach Athen geht. Und da bin ich jetzt, wieder laufend und blicke auf die weiße Stadt. An einer Straßenkreuzung sitzt ein Schlagzeuger. The drummer. Hat sich alles um
sich herum aufgebaut. Nur für uns!
Schon lange vor mir sind die ersten LäuferInnen ins Ziel eingelaufen, da war ich mit vielen anderen gerade mal bei der Hälfte der Strecke. Es sind wieder Afrikaner, die gewinnen. Zumindest im
Sport werden sie bejubelt.
Nun sind immer mehr Zuschauer auf den Straßen. Fotografen haben sich an den Streckenabschnitten gesammelt. Ich laufe am Hilton vorbei, wo eine Läuferstatue steht. Nur mehr zwei Kilometer! Ein
enormes Hochgefühl durchflutet meinen Körper und meine Seele. Ich steigere mein Tempo, für andere kaum sichtbar, aber ich denke, ich galoppiere! Noch einmal feuere ich mein Pferd an. Gebe ihm
noch etwas Zucker. Die Zuschauer an den Straßenrändern werfen Olivenzweigen. Vor mir erscheint das riesige, kolossale Panathinaiko-Stadium.
Noch trennen mich einige Meter von der Ziellinie. Jetzt peitsche ich auf mein Pony ein und überhole nochmals ein paar Läufer. Nach über fünf Stunden lasse ich mir eine unvergessliche Medaille um
den Hals hängen. Platz Zwölftausendundirgendwas von 20.000. Ob das gut ist? Es ist das Allerbeste! Mario wartet am Ausgang auf mich. Er hatte auch Durchhaltevermögen und ist nicht ohne mich
abgerauscht.
Ob ich das nochmals laufen würde? Ja! Nein! Vielleicht. Ich weiß nicht. Niemals! Ganz sicher! Nächstes Jahr zur selben Zeit. Aber jetzt denke ich nicht daran. Die griechischen Götter haben für
jetzt genug zu sehen bekommen. Sollen sie doch selber den Olymp herabsteigen!
Und falls du das jetzt liest und denkst, das schaffe ich auch! Dann rufe ich dir zu: »Run, Babe, run!«
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